Depression – wenn der Sinn verloren geht

© Andrea Marchetti

Menschen mit Depressionen können Zuwendung nicht annehmen und fordern unmenschlich hohe Leistungen von sich.

„“Depressiven ist oft der Sinn des Lebens abhanden gekommen. Ihre Krankheit ist ein qualvoller Zustand, den sie weder mit eigenem Willen noch anders beeinflussen können. Dieser Zustand ist es auch, der nicht wenige Erkrankte zum Selbstmord treibt. Innere und äußere Faktoren wirken zusammen.

Jetzt beginnt die „trübe“ Jahreszeit…  Depressionen haben nichts mit fehlendem Willen zu tun. Betroffenen fehlt oft der Sinn im Leben.

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Zwei junge Fische begegnen schwimmend einem alten Fisch, der in die Gegenrichtung schwimmt. Der alte Fisch fragt im Vorüberschwimmen: „Na, wie gefällt euch das Wasser?“ Die jungen Fische schwimmen zunächst noch ein Stück weiter, dann fragt der eine den anderen verwundert: „Was zum Teufel ist Wasser?!“ – Mit dieser kleinen Geschichte begann eine Rede, die der Schriftsteller David Foster Wallace, der im September des Jahres 2008 mit 46 Jahren starb, bei einer Feier gehalten hatte.

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Nicht nur das Leben als solches, auch der medizinische Fortschritt ist voller solcher Paradoxien: Viele für den Menschen lebensnotwendige Faktoren wurden erst dadurch erkannt, weil sie fehlten und der Mangel zu Krankheit oder Tod führte. Skorbut ist eine potenziell todbringende Erkrankung. Seine Symptome sind Zahnfleischbluten, Infektionsanfälligkeit, gestörte Wundheilung, Muskelschwund, Knochenschmerzen und Gelenkentzündungen. Skorbut ist eine Vitamin-C-Mangelerkrankung. Ohne den Skorbut, an dem früher viele Seefahrer erkrankten und starben, wäre die Medizin nicht zu der Erkenntnis gelangt, dass Vitamin C für den Menschen ein lebensnotwendiges Spurenelement ist.

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Mit dem Sinn verhält es sich ganz ähnlich wie mit dem Wasser bei den jungen Fischen oder wie mit dem Vitamin C. Wer in seinem Leben nie einen Mangel an Sinn erlebt hat, wer nie die Qual erlebt hat, die ein Mensch erleidet, dem das Gefühl für den Sinn des eigenen Lebens abhandengekommen ist, dem wird die Frage nach dem Sinn wahrscheinlich genauso unbegreiflich vorkommen wie den beiden jungen Fischen die Frage nach dem Wasser. Oft ist es paradoxerweise also erst der Mangel, der uns in die Lage versetzt, die Bedeutung eines Phänomens zu erkennen. Wenn es also eine Erkrankung gäbe, die durch Sinn-Mangel verursacht wäre, könnte uns dies wohl helfen, der medizinischen Bedeutung des Sinns auf die Spur zu kommen.

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Gibt es eine Sinn – Mangelerkrankung? Ja, es gibt sie. Sie ist eine ernste und in nicht wenigen Fällen sogar tödliche Erkrankung. Es ist die Depression. Depressive Erkrankungen sind keine Bagatellerkrankungen. Die Depression ist ein qualvoller, von den Betroffenen weder durch Willensakte noch durch sonstige selbst veranlasste Maßnahmen beeinflussbarer Zustand. Kennzeichen der Depression sind ein Gefühl anhaltender innerer Leere, über Wochen und Monate gehender Antriebsverlust, ein andauerndes „Gefühl der Gefühllosigkeit“ und eine qualvolle Empfindung völliger Sinnlosigkeit des eigenen Daseins.

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Dieser qualvolle Zustand ist es, der nicht wenige depressiv Erkrankte suizidal werden lässt – etwa David Foster Wallace, der sich das Leben nahm. Und das tragische Schicksal des deutschen Torwarts Robert Enke ist noch in unser aller Erinnerung. Der Tod dieses Sportlers hat viele Menschen ganz besonders berührt, weil er kein Aufschneider war, wie man sie im Spitzensport oft findet. Er war ein ganz „normaler“ Mensch, ein Mensch wie viele unter uns: bescheiden, pflichtbewusst und voller Hingabe an seine berufliche Arbeit.

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Wenn wir in der Sinnfrage noch einen Schritt weiter gehen, können wir uns eine Frage stellen, die im Falle des Skorbuts so lauten würde: Wenn der Skorbut eine Vitamin-C-Mangelerkrankung ist, welche Nahrungsmittel müssen Menschen zu sich nehmen, um ihren Vitamin-C-Bedarf zu stillen? Wie jedermann weiß, lautet die Antwort: frisches Obst und Gemüse!

Man könnte nun analog fragen:

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Wenn die Depression eine Sinn –  Mangelerkrankung ist, welche Bedürfnisse müssen befriedigt werden, welcher „Nahrung“ bedarf es, um den Sinnbedarf des Menschen zu stillen? Hypothesen darüber, um welche Bedürfnisse es sich hier handelt, gibt es schon lange, sowohl seitens der Philosophie als auch der Psychologie. Doch viele Menschen geben sich mit Vermutungen nur ungern zufrieden. Um die Skeptiker zu überzeugen, bedurfte es der Erkenntnisse der modernen Neurobiologie. Sie hat in den letzten Jahren tatsächlich Antworten auf die Frage geben können, welche Bedürfnisse befriedigt werden müssen, welcher „Nahrung“ es bedarf, um den menschlichen Organismus vor der Sinn-Mangelerkrankung Depression zu schützen.

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Die Antwort der Neurobiologie: Der Mensch braucht, um keinen Sinnmangel zu erleiden und nicht in Depression zu verfallen, zwischenmenschliche Anerkennung, Zuwendung und Sympathie. Wir benötigen, um Sinn zu erleben, andere Menschen, für die wir Bedeutung haben. Menschen brauchen, um gesund zu bleiben, Bindungen. Das Bedürfnis nach Bedeutung, Wertschätzung und Anerkennung ist also keineswegs nur ein psychologisches Bedürfnis (diesbezügliche Annahmen wären nicht neu), sondern es handelt sich – wie neurobiologische Studien zeigen – um ein biologisches Bedürfnis.

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Menschen, die den Verlust einer Bindung oder einen schwerwiegenden und lang anhaltenden Mangel an Wertschätzung durch andere erleiden, erleben eine messbare Veränderung ihres neurobiologischen Substrats: Die Motivationssysteme des Gehirns stellen die Synthese von lebenswichtigen Botenstoffen wie Dopamin ein. Gleichzeitig kommt es zu einer Aktivierung der neurobiologischen Stress- und Angstsysteme – unter anderem mit einem Anstieg der Stressbotenstoffe Cortisol und Noradrenalin. Das psychische Korrelat dieser neurobiologischen Veränderungen sind Gefühle der Sinnlosigkeit, der Leere, der Angst, des Selbstzweifels und des Lebensüberdrusses.

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Die Depression ist eine komplexe Erkrankung. Das Problem von Menschen, die zu depressiven Erkrankungen neigen, besteht nicht „nur“ darin, dass sie von anderen Menschen nicht genügend Wertschätzung erhalten haben. Zwar können externe, von außen kommende Faktoren für die Auslösung einer depressiven Erkrankung eine sehr bedeutende Rolle spielen, zum Beispiel übergroßer Leistungsdruck am Arbeitsplatz bei gleichzeitig fehlender Wertschätzung, eine Situation übrigens, wie sie derzeit sehr viele Menschen erleben.

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Diesen äußeren Faktoren ist durchaus Gewicht zuzumessen. Bei Menschen, die depressiv erkranken, spielt jedoch ein weiterer, nämlich ein innerer Faktor eine ebenso bedeutende Rolle: Personen mit erhöhtem Depressionsrisiko können die liebevolle Unterstützung oder Zuwendung anderer schlecht an sich heranlassen. Der Grund dafür ist, dass viele Depressive in den frühen Jahren ihres Lebens einen mehr oder weniger starken Mangel an bedingungsloser Liebe erlebt haben.

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Viele, die später depressiv erkranken, standen bereits als Kinder unter hohem Leistungs- oder Anpassungsdruck und mussten sich die ersehnte liebevolle Zuwendung sozusagen „hart erarbeiten“. Frühe Erfahrungen dieser Art prägen einen Menschen, sie lassen eine besondere innere Haltung entstehen, die psychotherapeutische Medizin spricht hier von einem inneren „Schema“. Menschen mit erhöhtem Depressionsrisiko haben ein inneres Schema, welches mit dem tiefen Gefühl verbunden ist: „Wenn ich keine besonderen Leistungen erbringe, bin ich nichts wert. Bin ich nicht besonders gut, dann können mich andere nicht lieben. Wenn ich keine Leistungen erbringe und andere mich nicht lieben, kann auch ich selbst mich nicht lieben.“

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Leistung ist der Dreh- und Angelpunkt, an dem sich für Menschen mit erhöhtem Depressionsrisiko entscheidet, ob sie sich als liebenswert empfinden und ob ihr Leben einen Sinn hat. Wir alle tragen eine Spur dieses inneren Schemas in uns. Bei Menschen jedoch, bei denen das depressive Schema besonders ausgeprägt ist, kann die vorbehaltlose Liebe eines anderen Menschen nicht mehr ins eigene Innere hineingelassen werden: Depressive fühlen sich wie durch eine unsichtbare Wand von anderen emotional abgetrennt.

Etwas Weiteres kommt hinzu: Wie von unsichtbarer Hand gesteuert, geraten Menschen mit einem depressiven inneren Schema immer wieder in berufliche oder private Milieus und Situationen, wo sie zwar wenig Zuwendung finden, dafür aber ihren Leistungshunger ausleben können, an dem sie dann aber – früher oder später– erkranken. Die Depression ist also eine Erkrankung, bei der innere und äußere Faktoren zusammenwirken.

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Die Therapie besteht nicht nur darin, auf die äußeren Faktoren zu achten, die eine Depression begünstigen, sondern mit den Patienten auch nach innen zu schauen und das eigene „depressive Schema“ zu verändern.

Angehörige sollten hier auf keinen Fall „Do it yourself“-Therapieversuche starten. Die Arbeit an inneren Schemata gehört in die Hand von guten Psychotherapeuten. Im Falle eines ernsten depressiven Einbruchs sollte die Behandlung auf jeden Fall in einer psychosomatischen Klinik erfolgen.

© Andrea Marchetti

Der Autor ist Universitätsprofessor, Internist, Psychiater und Facharzt für psychosomatische Medizin. Er arbeitet am Uniklinikum in Freiburg.““
(Quelle: Berliner Morgenpost vom 18.12.2009)

Depressionen zu haben gehört zum Menschsein und betrifft uns alle. Wahre Größe zeigt sich, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Gehören Sie dazu? Nutzen Sie z.B. dafür die Psychokinesiologie, beginnen Sie mit dem ersten Schritt! Denn: Depressionen haben immer Saison – unabhängig von der Jahreszeit.

Herzlichst

Evelyn

Mentorin auf Zeit

Nachtrag vom 06.11.2010:
Hier
eine Diskussion im Wirtschaftsforum (lief auf Phoenix)  zum Thema
„Wenn die Seele Trauer trägt – Volkskrankheit Depression“

Ein wirklich sehenswerter Beitrag.


8 Kommentare

  1. 1. Else

    Kommentar vom 7. Oktober 2010 um 12:48

    Als Betroffene: Ein sehr wichtiger, zum Nachdenken anregender Artikel. Oft wissen Betroffene sehr wohl um ihre Depression, sind aber wie versteinert und können tatsächlich schlecht eine Hilfe bewusst annehmen oder einfordern. Dann beginnt der Teufelskreislauf- weiterer sozialer Rückzug, Hoffnungslosigkeit, Selbst-Zweifel, Sinnlosigkeit werden größer und schwerer empfunden. Das Schlimmste sind solche Hinweise wie: „Da musst du durch!“ (Der m.M. nach schlimmste Satz für jede Lebenssituation!),
    „Anderen geht es noch schlechter.“, „Hab dich nicht so.“ usw. usf. Ich halte eine medikamentöse Unterstützung als Brücke, um z.B. Hilfen wie Psychokineosologie freiwillig und bewusst anzunehmen, für sinnvoll. Und eines habe ich gelernt: die Depression wartet immer und immer wieder auf „ihre Chance“ auszubrechen. Im Artikel ist sehr anschaulich vom „depressiven inneren Schema“ gesprochen, das es zu durchbrechen gilt. Auch hier aus eigener Erfahrung: das geht nicht auf Dauer und tiefgründig in „Eigenregie“ allein.

  2. 2. Dr. Bernhard A. Grimm

    Kommentar vom 12. Oktober 2010 um 10:49

    Liebe Evelyn,

    recht vielen Dank für Deinen Beitrag zur Sinn.frage – ich kann ihn gut unterschreiben, zumal ich nach Kajas Tod immer wieder von Depression und Trauer überfallen werde, wobei sich mir jedoch keinen Tag lang die Sinn.haftigkeit des Lebens frag.lich ist – in diesem „ewigen“ Lern.prozess des irdischen Lebens. Wie ich über Sinn denke, teile ich hier unter dem Aspekt „Sinn und Orientierung“ mit – wenn Du willst, kannst Du daraus einen eigenen Beitrag redigieren, wie seinerzeit zu Abschied und Loslassen:

    Der Mensch ist ein geschichtlich verfasstes Wesen, d.h. er ist eingespannt zwischen Vergangenheit, die ihm entzogen ist, und ankommender Zukunft, in der er seine noch un.fertige und un.abgeschlossene Wesens.gestalt in der Auseinandersetzung mit der ihm vorgegebenen Situations.welt erst schaffen und sich zueignen muss.

    In dieser geschichtlichen Prägung lebt der Mensch stets in der bedrängenden Spannung zwischen dem Menschsein als Besitz und dem Menschsein als Aufgabe, die erfüllt, aber auch verfehlt werden kann. Jedenfalls heißt, geschichtlich bestimmt zu sein, sich auf dem Wege zu befinden – vom Noch-nicht-Erfülltsein zur Erfüllung. Es bedeutet zugleich, auszublicken in die Zukunft, aus der her das Vollendete oder zu Vollendende erst noch erwartet wird: In dieser Offenheit auf Zukunft hin ist der Mensch Erwartung und Hoffnung, Erwartender und Hoffender.

    Ein geschichtliches Wesen zu sein, bedeutet aber auch, dass sich das Schicksal des Menschen in einem zeitlichen Nacheinander erfüllt, in eigenen Entscheidungen ebenso wie in Widerfahrnissen von außen. Ein Teil dessen, was den Menschen als konkrete Person ausmacht, steht immer noch aus. Und dieses Ausständige seiner Existenz ist das Künftige. Und so ist denn die Zukunft der Raum, in dem der Mensch – in Gedanken der Gegenwart vorgreifend – lebt und in den hinein, mit Heidegger gesprochen, er sich selbst vorweg ist, während er die Gegenwart als den flüchtigen Moment einer Bewegung erlebt, der eben dadurch, dass er zur Zukunft weiterleitet, selbst schon Vergangenheit wird. Genau hier hat die Hoffnung ihren Platz: „Die einzige Antwort, die der wirklichen Existenz-Situation des Menschen entspricht, ist: die Hoffnung“ (Josef Pieper).

    Der „Mensch unterwegs“ (= homo viator) – Hoffnung als Weg.gefühl.

    Sehr gerne bezeichne ich den Menschen mit meinem Lieblingsbild als einen „homo viator“ und benenne damit einen metaphysischen Wesenszug des Menschen, nämlich das Unterwegssein = stets auf dem Weg zwischen Orten von hier nach dort, in der Zeit von gestern zum Heute und Morgen und Übermorgen, unterwegs auch zwischen Zuständen, beispielsweise zwischen Anlage und Erfüllung, unterwegs zwischen dem „schon-da“ und dem „noch-nicht.

    Wenn man diese Grundverfassung des Menschen, den Stand des Auf-dem-Weg-Seins ernst nimmt und eben darin die Existenzsituation des Menschen widergespiegelt sieht, dann ist die Hoffnung ein „Weggefühl“, das auf Künftiges gerichtet ist und dieses in einer auslangenden seelischen Bewegung herbeisehnt.

    Hoffnung als „Weggefühl“ richtet sich auf ein Ziel, das es zu erreichen gilt. Sie enthält also Zu-versicht und Gewissheit des Gelingens. Sie ist jedoch immer auch gekennzeichnet von der Tatsache, dass die Ankunft des Ersehnten noch aussteht. So ist der einer jeden Hoffnung gemäße Ort immer angesiedelt zwischen dem Schon-da-Sein und dem Noch-nicht-Sein, und das heißt: Das erstrebte Ziel ist schon da, es erfüllt mein Bewusstsein, es bewegt und ergreift meine Existenz, aber die unverkürzte Erfüllung ist noch nicht erlangt.

    Allerdings muss, was ich erhoffe, mir grundsätzlich möglich und erreichbar sein. Was unmöglich geworden ist, erhoffe ich nicht mehr, ich sehe es an mit Verzweiflung oder Resignation. Auch das, was mir restlos verfügbar ist oder mühelos in Reichweite meiner eigenen Kräfte liegt, erhoffe ich nicht eigentlich, sondern beschließe und ergreife es. Nur was mir nicht oder nicht restlos verfügbar ist und was steil meine Kräfte überragt und was zu erlangen ich doch zuversichtlich bin (ohne freilich vor Fehlschlägen ganz sicher zu sein), davon sagt, meine ich, unsere Sprache, dass man es erhofft.

    Der Hoffende konkretisiert die Zukunft, das heißt: Er erwartet einzelne Dinge, Ereignisse, Begegnungen, beispielsweise Genesung und Heilung. So trägt Hoffen immer etwas von Erwartung in sich, und doch ist Hoffnung mehr als Erwartung, denn was mir ohnehin zur Hand ist, was mit Sicherheit gut ausgehen wird, brauche ich nicht mehr zu erhoffen, wohl aber das, was nicht so ohne weiteres zu haben ist und nicht in unserer Macht steht. „Das Erhoffte ist immer von solcher Art, dass der Hoffende keine Gewalt darüber hat“ (Josef Pieper), oder: „Die einzige Hoffnung ist die, welche sich auf etwas richtet, was nicht von uns abhängt“ (Gabriel Marcel).

    Jedenfalls dürfen, wenn Gutes, Erwünschtes, Geliebtes erhofft wird und wenn in solcher Hoffnung Verlangen und Sehnsucht mitschwingen, die Schwierigkeiten sich nicht zu hoch auftürmen:

    In meinem hoffenden Auslangen nach dem Erstrebten muss dieses auch in irgendeiner Weise er.reichbar sein. Dunkle Zukunft daher, die keinen Lichtschimmer zeigt, erstickt die Hoffnung und schlägt leicht in Verzweiflung um.

    Zukunftslosigkeit lässt sich nicht leben! Erst die Überzeugung, dass die Aufgabe, auch die des individuellen Lebens, zu bewältigen ist, bildet ein hinreichendes Fundament, aus dem Hoffnung entstehen kann.

    Daher sage ich, SINN schafft Hoffnung, denn gerade er ist dieses Fundament – von Stunde zu Stunde, von Situation zu Situation. Das Wort „Sinn“ kommt vom niederhochdeutschen ‚sinnan‘ und bedeutet ursprünglich „reisen, streben, gehen“, also „einer Richtung nachgehen“ auf einem Weg, der mir ein Wert ist – der Wert ist die Orientierungsmarke und löst gleichsam den Impuls aus, sich auf den Weg zu machen. Das „Weggefühl“ Hoffnung ist unsere zuverlässige Begleiterin.

    Der „Zwang“ zur Wahl, zur Freiheit

    Der homo viator, also der „Mensch unterwegs“ als Pilger und Wanderer, als Weggeher und Weggänger – heute in der Form des mobilen Menschen – ist permanent aufs je Neue zu Entscheidungen und Einstellungen gezwungen, und sei es nur zwischen einem Ja und einem Nein: Wenigstens diese Möglichkeiten bleiben ihm immer in und für jede Situation!

    Dieser „Zwang“ zur Wahl zwingt den Menschen zu noch etwas: Eine Entscheidung kann nämlich nur getroffen werden anhand einer Orientierung, anhand eines Grundes, anhand eines noch so geringen „Mehrs“, eines Plus also auf der einen Waagschale. Und selbst eine willkürliche Ent.scheidung hat ihre Orientierung, nämlich die Orientierung an den inneren Impulsen.

    Wenn ich den Menschen konzipiere als einen, der auf dem Wege ist, dann muss gesagt werden, dass ein Weg immer gerichtet ist, also immer ein Ziel hat, es sucht und erreicht (oder auch nicht), es verfehlt, an ihm vorbei oder in die Irre (als neuem „Ziel“?) geht – aber der Weg hat immer Richtung!

    Jedoch w i r geben die Richtung an, das ist das Wesentliche, und vornehmlich wir selbst bestim-men, wohin der Weg gehen soll mit all seinen Kurven und Widerwärtigkeiten, mit all den zahlreichen Unwegsamkeiten und gelegentlichen Aussichtslosigkeiten. So jedenfalls, wenn man Ja sagt zu einem Menschenbild, das Platz hat für freie Entscheidungsmächtigkeit und den Menschen nicht durch genetische und psychosoziale Potentiale weitestgehend geprägt und determiniert sein lässt.

    Manch einer mag die Freiheit des Menschen leugnen und sich damit als superintellektuell geben. Das Problem der Freiheit jedoch ist so alt wie die Menschheit, und Willens.freiheit ist nun mal in der Psychologie stets ein Stiefkind geblieben und in der Philosophie ein ewiger Streitpunkt, ganz entgegen dem normalen Lebensgefühl der Frau und des Mannes auf der Straße, die sich spontan und unreflektiert als frei empfinden (und damit als verantwortlich!).

    M e i n e Haltung nenne ich unverblümt: Wer die Willensfreiheit des Menschen leugnet, reiht ihn ein in den Einzugsbereich des nackten Affen und damit in eine Welt des ungestümen Getriebenseins, des Geprägt-, des Verführt- und des Manipuliertwerdens, bei dem es allenthalben keine geistige Mitsprache gibt. Dahinter steckt – und das ist eigentlich das so beängstigend Falsche! – die Theorie der permanenten Selbstentschuldung, denn: Wenn nicht frei, dann auch nicht verantwortlich: Es sind doch immer die anderen, die Gene, die Eltern und Lehrer, die Politiker, die Kirche, das Wet-ter, die Gesellschaft, die Umstände – der Täter ist eigentlich nur das bemitleidenswerte Opfer!

    Ich denke in diesem Zusammenhang an Jean-Paul Sartre und an seinen Begriff von Unfreiheit, der sehr denkenswert ist. Er sagt einmal, der Mensch habe nur die Unfreiheit, nicht frei zu sein: „Der Mensch ist zwar frei, nach seinem Verständnis zu wählen, aber er ist nicht frei, aufzuhören, frei zu sein.“

      Und gerade aus dieser „Verurteilung zur Freiheit“, wie es Sartre formuliert, resultiert für den Menschen eine Orientierungs.notwendigkeit, die Notwendigkeit einer Richtung, in der die Ent.scheidung fällt.

      Sinn ist dynamisch, situativ und individuell

      Sinn ist immer auch Richtung, weil es hier um Werte geht. Sinn gibt einen Weg an. Und wenn Entscheidung stets auch Verwirklichung von Werten ist, d.h. Verwirklichung des von mir als zu tun wertvoll Erkanntem, dann ist dies fürwahr „sinnan“ = reisen, d.h. einer Richtung nachgehen auf einem Weg, der mir ein Wert ist. Sonst würde ich ihn gar nicht gehen, sonst könnte ich mich gar nicht entscheiden, was letztlich und eigentlich unmöglich ist.

      SINN ist daher nie statisch, er ist nie eine für jedermann und für jede Situation gültige und feststehende Realität, sondern Sinn ist immer etwas, das wird. Er ist dynamisch und an den Augenblick und an die Situation, an das Hier und Heute und Jetzt gebunden, denn gerade im Hier und Heute und Jetzt begegnet mir Leben!

      Man versteht jetzt leicht, dass Sinn in diesem Verständnis auch nicht gleichgesetzt werden kann mit zweifels.freier, un.umstößlicher und un.beirrbarer Sicherheit. Wer die sucht, wird alle Sinnsuche bald beiseite legen, aber auch alles andere, manchmal sogar das Leben, das bei statisch-linearem Denken genau das nicht bringt – und schon gar nicht zum gewünschten Zeitpunkt -, was erwartet wird. Sinn ist ein Tasten nach dem (subjektiv-individuell) Richtigen, wobei uns unser ethisches „Riechorgan“, unser Gewissen, das als eine Art Sinn.Organ einem Souffleur gleicht, begleitet und uns eingibt und erspüren lässt, in welche Richtung wir vorzugehen haben, um an die Sinnmöglichkeiten heranzukommen, deren Verwirklichung eine gegebene Situation uns abverlangt.

      Weil Sinn Orientierung ist, ist er nun mal stets mit dem Risiko der Unsicherheit der Entscheidung und des Einsatzes verbunden: Dieses Wagnis und diese Unsicherheit jedoch entheben den Menschen keineswegs der Notwendigkeit, sich am Sinn zu orientieren, und das heißt: aus der un.endlichen Vielfalt der Möglichkeiten – so z.B. an einem Unfallort anzuhalten und zu helfen oder vorbeizufahren und ein Rendezvous oder einen Geschäftstermin wahrzunehmen – jeweils die mir sinnvollste zu wählen und – auch zu verantworten.

      Das Erkennen von Sinn wird dadurch erschwert, dass er niemals gegenständlich.materiell ist. Er ist keine faktisch.materielle Wirklichkeit, sondern immer eine praktische Möglichkeit, die mich an.geht und Appell- und Aufforderungscharakter hat. Als Möglichkeit ist er (verständlicherweise) von flüchtigem Charakter, immer im Entschwinden und doch immer aufs neue da, eigentlich ähnlich der Zeit und dem Bewusstsein. In jedem Augenblick aber kann es nur eine einzige Möglichkeit geben, die im Hinblick auf ihre potentielle Sinnhaftigkeit gerade für mich das eine darstellt, das Not tut. Und eben die herauszufinden, macht die Forderung aus, die aus jeder Situation an uns ergeht – im Sinne eines Aufrufs zur Verantwortlichkeit. Situation ist immer Situation für mich!

      Bleiben wir bei unserem Beispiel: Ich kann heute um 9.30 Uhr an dem Unfallverletzten vorbeifahren und später, ein andermal helfen (wollen), wo vielleicht meine Hilfeleistung noch sehr viel dringlicher und effizienter sein mag. Aber diese eine Chance, diese eine Möglichkeit heute um 9.30 Uhr als Sinn.erfüllungs.möglichkeit und als Wert.verwirklichungs.möglichkeit ist, wenn ich weiterfahre, endgültig vorbei und für immer vertan. Meine Antwort auf das Leben, d.h. meine Antwort auf die Frage, die diese eine Situation zu diesem einen Zeitpunkt an mich gestellt hat, habe ich ein für allemal gegeben – durch das Nichtanhalten und Weiterfahren -; die gleiche Möglichkeit kommt nie wieder zurück!

      Wir sind stets in die Verantwortung genommen, für jede Sinnwahl oder Wert(e)wahl geradezustehen!

      Das ist fürwahr ein Abenteuer. Aber Sinn ist nun mal jeweils ein Unikat, er ist immer ein anderer, für jeden einzelnen immer ein anderer, und jeder Augenblick, jede Stunde und jeder Tag vermag mit immer neuen Sinnmöglichkeiten aufzuwarten, was heißt, dass auf jeden Menschen immer und stetig neu etwas wartet, ein Anruf der Situation, eine Aufgabe je besonderer Art.

      Sinn.verlust ist Un.heil

      Sinn-voll leben heißt, innerhalb einer begrenzten Zeitspanne tätig zu sein und verantwortungs.bewusst zu handeln. Sinn findet man nicht im Ausblenden der Gegenwart, weder durch Psychoarchäologie noch durch Mandala.Visionen und Om.Rezitationen, wie wertig dies auch punktuell sein mag. Sinn.Erfüllung findet hier und heute statt, und Sinn.Aufschub in einer Stunde bedeutet Sinn.Verlust für diese Stunde, wenn nicht gar Verlust dieser Stunde überhaupt. Sinn ist höchst konkret, er ist kein Gefühl, sondern Bewusstheit, die auf ein Gegenüber, auf einen Gegenstand gerichtet ist, auf eine Sache, eine Idee, eine Aufgabe, auf andere Menschen, ja selbst auf Gott, wenn Sinnhaftigkeit in einem Lebenskonzept Gottesglauben voraussetzt.

      SINN ist so lebenswichtig wie die Luft, die man atmet, und deren man sich meist erst bewusst wird, wenn einem jemand den Hals zudrückt.

      Deshalb spricht der sinn.voll Lebende am allerwenigsten über Sinn, während Sinn für den vom Schicksal Geplagten und für den am Leben Frustrierten sofort zum Problem, oftmals zum Überlebensproblem wird. Sinn.verlust ist daher auch keine Krankheit, sondern ein Un.heil, das die Ganzheit des Menschen betrifft und auch nur in dieser Ganzheit geheilt werden kann.

      Ich wünschte mir sehr, dass es bei niemandem so weit komme, sondern dass er stets die Fähigkeit besitzen oder sich anzueignen imstande sein möge, Sinnmöglichkeiten auf dem Hintergrund der Wirklichkeit aufleuchten zu sehen, wie dies Rainer Maria Rilke in diese Worte kleidet:

      „Wenn Dein Alltag Dir arm erscheint, klage ihn nicht an – klage Dich an, weil Du nicht stark genug bist, seine Reichtümer zu wecken.“

      Sinn ist im Leben zu entdecken und nachgerade zu ent.bergen wie das Gold aus dem Geröll einer Mine. Manchmal mag dies auch bedeuten, hinter sich zu schauen und zurückzublicken, d.h. dank.bar zu sein für das Gewesene und Erlebte und aus der Erfülltheit der Vergangenheit wieder Mut und Kraft für die Zukunft zu gewinnen:
      „Leuchtende Tage. Weine nicht, dass sie vorüber, sondern lächle, dass sie gewesen“ (Immanuel Kant).

      Leben ist Dynamik, aber stets Verantwortung

      Möglichkeiten sind Wege zu einem Ziel hin, das noch nicht zur Wirklichkeit erhoben ist – der Weg aber ist wirklich. Und Leben, unser ganz persönlich.individuelles Leben, menschliches Da.sein schlechthin verstehe ich als reine Möglichkeit (zu allem hin), was bedeutet: Leben ist stets und wesentlich verbunden mit Abertausenden von Entscheidungen, um aus Möglichkeiten Wirklichkeiten werden zu lassen. Das ist Dynamik, aber stets Verantwortung. Und so verstehe ich auch sehr gut Max Scheler, wenn er kurz und bündig sagt: „Der Mensch ist eine Richtung, kein Ding.“ So verstanden kann man durchaus den Menschen als Möglichkeit konzipieren, ganz im Sinne des Nietzsche-Postulats: „Werde, der Du bist“ oder mit Abraham Maslow: „Was ein Mensch sein kann, muss er sein.“

      Ein solches Menschenbild lässt grundsätzlich Hoffnung zu, Hoffnung als Ur.gebärde der mensch.lichen Existenz und als Ausdruck der Grundverfassung des Menschen, die ich vorher mit dem „Stand des Auf-dem-Weg-Seins“ umschrieben habe.

      Orientierungslosigkeit und Hoffnungslosigkeit hängen innerlich eng zusammen, denn wer ohne Hoffnung ist, dem verblasst jede Orientierung, auch wenn sie noch so gut gemeint ist. Und wer ohne Orientierung ist, dem nützt auch die Hoffnung nichts. Beides gehört zusammen.

      Interessant und wichtig ist, was in diesem Zusammenhang nie gesehen wird: Orientierung hängt sprachlich mit Orient zusammen und verweist also auf jene Himmelsrichtung, die für die Bewohner der Mittelmeerländer für den Sonnenaufgang steht. Die Sonne steht für das Leben, für Wiedergeburt, für Erneuerung, für Neuanfang und Lebensenergie, für Ausgang und Ziel des Kosmos. Orientierung ist also richtungsbezogene Dynamik schlechthin, aber sie ist nicht die platte Kenntnis des (richtigen) Weges (Norbert Copray). Der sinn.orientierte Mensch begibt sich auf diesen Weg, er hat die Richtung, weil er das Ziel kennt, nämlich die Fülle der noch zu verwirklichenden Werte.

      Den Weg mit all seinen Risiken muss jeder selbst gehen, wie dies sehr schön Ulrich Schaffer „ver.dichtet“:

      „Den Weg, den Du vor Dir hast, kennt keiner.
      Nie ist ihn einer so gegangen, wie Du ihn gehen wirst.
      Es ist D e i n Weg. Unauswechselbar.
      Du kannst Dir Rat holen, aber entscheiden musst Du.“

      Hoffnung ist letztlich nicht nur „der letzte Grund der Seele“ (Friedrich Bollnow) und in der Sprache Gabriel Marcels „gar der Stoff, aus dem unsere Seele gemacht ist“, sondern sie ist es, die das Leben als Leben, als in die Zukunft gerichtetes Handeln und Streben erst ermöglicht.
      Rein alles gibt es auf dem Markt zu kaufen, nur keine Hoffnung und keinen Lebenssinn, was auch immer der einzelne darunter verstehen mag. Droht das eine wie das andere sich zu minimieren, ist Gefahr im Anzug; und wiewohl ich gerne an das Dichterwort Hölderlins glauben mag: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, so gilt auch die andere Erkenntnis, wonach der, der die Gefahr liebt, darin umkommt.

      Ich wünsche einem jeden und auch mir, dass uns die Hoffnung nicht „ausgehe“, dass wir die Orientierung auf Werte hin nicht verlieren und dass wir stets imstande sein mögen, immer wieder neu Sinn.funken aus unserer Situations.welt zu schlagen – und mag sie oftmals noch so ruppig, widerborstig und trist sein.

      Mit diesem Wunsch bin ich, herz.lich grüßend,
      Dein Bernhard

      P.S. Wer mehr zu dieser Thematik erfahren will, dem sei mein Buch ans Herz gelegt:
      „Lust auf Leben – Leben braucht Sinn.
      Hoffnung statt Nullbock auf Nichts“,
      Ephatá Verlag, Pfaffenhofen 1999, 384 Seiten, € 20,00 – am schnellsten bei mir selber zu ordern unter dr.grimm@online.de

  3. 3. Evelyn

    Kommentar vom 19. Oktober 2010 um 00:49

    Lieber Bernhard,

    wieder einmal mehr hast Du mit Deinen Worten uns eine wunderbare Ergänzung zum Thema Sinn und Verantwortung zuteil werden lassen. Ich mag u.a. auch das nachfolgende Zitat von Ulrich Schaffer:

    Manchmal tragen wir unsere Wahrheit tief in uns,
    trauen uns aber nicht, sie zu leben.
    Wir erkennen die Weisheit unserer Seele,
    verschweigen sie aber.“Geh’ du vor“,
    sagt die Seele zum Körper, „auf mich hört er nicht,vielleicht hört er auf dich“.

    „Ich werde krank werden, dann wird er Zeit für dich haben“, sagt der Körper zur Seele.

    Und genau das passiert heute immer mehr; die Menschen werden krank, weil sie sich selbst vergessen zuzuhören.

    Ein guter Titel von Deinem Buch 🙂 Ich wünsche mir, daß das ganz viele Menschen lesen.

    Herzlichst
    Evelyn

  4. 4. Evelyn

    Kommentar vom 19. Oktober 2010 um 00:53

    Danke, liebe Else,

    für Ihren Besuch und Ihre Zeilen. Gerade Sie, die diese Situation selbst erleb(t)en, können nachvollziehen, wie groß das Leid ist bzw. sein kann. Und ja, die Depression bleibt vor allem dann, wenn sie „unbehandelt“ bleibt. Und ich kenne diese Sätze und irgendwann sagt man sie sich auch selbst, einfach weil der Unglaube da ist, daß die Situation auch anders sein kann.

    Ich wünsche Ihnen weiterhin Kraft auf Ihrem Weg und den Mut, eigenverantwortlich mit sich selbst umzugehen.

    Herzlichst
    Evelyn

  5. 5. Irmgard Hetterich

    Kommentar vom 25. Oktober 2010 um 22:23

    Liebe Evelyn,

    ich dachte zuerst, du hast den Bericht geschrieben und kannst die Depression so gut erklären, aber es war ein Professor, der sicher viel Ahnung hat. Aber ich kenne auch, was er beschrieben hat, denn vor vielen Jahren war ich auch Suizid gefährdet. Da will man mit niemanden reden. Man ist lustlos. Der Tag vergeht und man hat überhaupt nichts getan. Mein Mann ist mal am Abend ausgegangen und die Stunden waren wie eine Ewigkeit, die ich alleine verbringen musste. Ich dachte, wie kann er mich in so einem Zustand alleine lassen? Er ist natürlich noch zur Arbeit gegangen. Aber ich fühlte mich nur sicher, wenn er zu hause war.

    Andere wunderten sich, wieso ich sie nicht mehr besuche. Ich wollte niemanden sehen. Ich nahm Medikamente. Da wird man gefühllos. Langsam wirken sie und alles sieht nicht mehr so aussichtslos aus, wie damals, als es begann.
    Dabei sieht man gesund aus. Niemand sieht es einem an, wie man innerlich leidet.Verrückt wird.

    Und es kam wieder. Aber dann hatten wir es beide. Die Kinder waren noch klein und sind mit zum Psychologen gegangen wenn wir niemand für sie gefunden haben.

    Aber so viele Menschen haben in ihrem Leben mal diesen Punkt, diese Sinnlosigkeit. Sie können es überwinden, wenn sie bereit sind, Hilfe anzunehmen. Man muss es erkennen und zugeben können. Man will es geheim halten. Was werden die anderen denken?
    Besonders wenn der Satz dann kommen sollte, dir geht es doch gut. Schau dir andere an wie schlecht es ihnen geht.
    Das hilft überhaupt nichts.

    Ich half mir am besten mit dem Schreiben. Ich fing an meine Träume aufzuschreiben. Ein ganzes Jahr lang um mich besser kennen zu lernen.
    Ich fing an ein Tagebuch zu führen. Ich schrieb Gedichte.
    Las Bücher und besuchte Vorträge über Positives Denken.
    Wenn man es endlich hinter einen lassen kann und sieht, es ist überwindbar, dann kann man versuchen es anderen klar zu machen, dass auch sie es schaffen können. Ein Mitgefühl für andere und das Erkenntnis, dass es jeden passieren kann ist hilfreich. Und ich sage, es kann jeden treffen. Aber vielleicht gibt es tatsächlich bestimmte Menschen, die mehr anfällig sind, wie in dem Artikel beschrieben. Damit kenne ich mich nicht so gut aus.

    Aber ich schaue mir meine Mitmenschen immer genau an, wenn ich sie begegne. Meine Botschaft lautet, erkenne den Wert der anderen, denn die Würde des Menschen ist unantastbar. Zuerst muss man seinen Wert erkennen und sich selbst lieben.

    liebe Grüße
    Irmgard

  6. 6. Evelyn

    Kommentar vom 6. November 2010 um 14:35

    Liebe Irmgard,

    hab Dank auch für Deinen Beitrag.

    Ja, sehen und sehen ist zweierlei. Und meist wird nur das gesehen, was gesehen werden „will“ und mit dem eigenen Erleben und den eigenen Wert“Vor“stellungen übereinstimmt. Es gibt nur wenige Menschen, die wirklich hinsehen – und hinhören bzw. zuhören. Und erst dann wird wirkliches Verstehen möglich.

    Herzlichst
    Evelyn

  7. 7. Tobias

    Kommentar vom 10. November 2010 um 01:40

    >>Menschen mit Depressionen können Zuwendung nicht annehmen und fordern unmenschlich hohe Leistungen von sich.<< – wie wahr!

    Liebe Vor-schreiber,

    Vor ein paar Tagen bekam ich eine Mail von einem Bekannten den ich zu meiner Geburtstagsfeier eingeladen hatte. Er schrieb er sei in einer depri-Phase und wollte mit seiner miesen Stimmung nicht die Feier verderben.

    Ich habe mich dann hingesetzt und ihm geschrieben, dass ich diese Zustände aus eigener Erfahrung kenne, und dass das einzige (soweit man das überhaupt so nennen kann)was mir geholfen hat, war zu lernen auch diese Seite von mir liebevoll anzunehmen. Depression ist nicht 'erlaubt', wir müssen gut drauf sein – unsere Kunden, Chefs, Verwandtschaft etc. erwarten das.

    Jeder der mit depressiven Verstimmungen zu tun hat hat auch ein schlechtes Gewissen – die Familien 'leiden' unter den Depressiven (kann man überall lesen), die Arbeitskollegen müssen mehr arbeiten weil der Depressive nur noch einen Teil seiner Arbeitsleistung erbringt, gute Freunde sagen "Mach doch einfach mal was Schönes, geh unter Leute" (Lachnummer)"Reiß dich mal zusammen" (Arschengel)"Du musst nur mal positiv denken" (Gift!), weil du es garantiert n i c h t tust, hast du garantiert danach ein schlechtes Gewissen.

    Also ist das alles so, weil ich ich nicht genug angestrengt habe??
    Ich komme mir nur näher indem ich mich annehme und und zwar nicht nach dem Motto: "Tut mir leid Leute, ich bin halt so!" sondern mit Liebe, oder sollte ich sagen mit meiner ganzen mir zur Verfügung stehenden Liebe?

    Meine depressive Seite gehört zu mir und ohne sie hätte ich vieles an 'Tiefgang' in meinem Leben nicht kennengelernt, vieles an Mitgefühl nicht empfunden, Anregungen für mein künstlerisches Tun nicht bekommen und sogar Suizidgedanken sind ein Teil von mir und ich bin weiter denn je davon entfernt ihnen nachkommen zu müssen, weil ich sie liebevoll als einen Teil von mir annehme.

    Ich bin kein Erleuchteter, weiß Gott nicht, ich fühle mich manchmal hilflos – überfordert, erschüttert – aber nicht zerstört.

    Es ist im Sinne des Autors des obersten Artikels, wenn ich v. Hirschhausen zitiere:
    Wenn ein Mensch zu einem guten Arzt kommt, fragt der ihn: "Was fehlt Ihnen?"
    Und dann gehts los – habe ich vielleicht ein Burn-out Syndrom? eine Posttraumatische Belastungsstörung? ein ADS im Erwachsenenalter? Leide ich vielleicht einfach nur an Prokrastination? (Gaaanz dickes Dankeschön für den Link, liebe Evelyn) alles das könnte wie eine Depression aussehen – wäre auch nicht so schlimm, wenn die Diagnose nicht eigentlich gleichzeitig ein 'Urteil' wäre.

    Hier gibt es noch viel zu tun – ich kann nur von mir sprechen und ich lebe noch – und ich kann niemandem helfen außer mir. Wer dies gelesen hat, hat auch die Wahl sich diesen Gedanken anzueignen oder auch nicht, ganz einfach!
    Liebe Grüße
    Tobias

  8. 8. Herbertrok

    Kommentar vom 12. Januar 2017 um 08:57

    Hallo,

    interessante und informative Beiträge hier, super. Habe längere Zeit als stiller Gast nur mitgelesen und mich jetzt mal angemeldet.
    Ich würde mich freuen, wenn ihr bei Gelegenheit auch einmal auf meinem Blog zum Thema Textilreinigung vorbeischauen würdet.

    Alles Liebe

    Herbert

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