Grenzüberschreitungen
Ich frage mich immer wieder, wo Missbrauch überhaupt anfängt und ob wir uns um die fließenden Grenzen bewußt sind. Wir lesen in der Zeitung, dass Eltern ihr Kind quälten, hungern ließen, schlugen, und noch schlimmeres mehr. Doch kann es sein, dass uns selbst im Alltag nicht immer die Grenzen klar sind?
Wie ist es zum Beispiel wenn die Mutter oder der Vater das Essen zubereitete, man (vielleicht) gemeinsam am Tisch sitzend die Mahlzeit einnimmt und das Kind partout nicht alles auf essen will, was auf dem Teller liegt? Es wird gelockt, es wird gedroht und schließlich heißt es dann meistenteils: „Wenn Du jetzt nicht auf isst, ist Mutter/Vater sehr traurig und hat dich nicht mehr lieb.“
Für ein Kind ist nicht geliebt zu werden eine sehr große Bedrohung. Braucht es doch die Fürsorge und Liebe der Eltern, das Geborgensein. Also wird es aufessen. Und die erste Erpressung ist durchgelaufen, weitere werden folgen. Das Kind verinnerlicht damit: ich bin für die Gefühle meiner Eltern zuständig, ich darf nicht Nein sagen, ich muss tun, was man mir sagt. Schon ist die emotionale Grenzüberschreitung da.
Sind wir uns darüber im Klaren, dass solcherlei Verhalten zu späteren Essstörungen führen können, zu Persönlichkeitsstörungen, zu einer unreflektierten Anpassung, zu fehlendem Selbstvertrauen? Einfach, weil die Grundlage dafür in einem Alter gelegt wurde, als sich das Kind nicht wehren konnte? Es war ja schließlich von seinen Eltern abhängig.
Und welche Erfahrungen gibt der spätere Erwachsene dann weiter? Wahrscheinlich wird er genauso handeln, wie er/sie behandelt wurde. Denn die Ursache für dieses Verhalten ist längst vergessen und gut verdrängt; die Erinnerung jedoch bleibt im Unterbewußten abgespeichert und löst so dann das aktuelle Handeln aus.
Es lohnt sich darüber nachzudenken und vor allem nachzuspüren, nachzufühlen, welche Erfahrungen Sie selbst verinnerlichten. Diese leben wir weiter – so lange, bis wir aus diesem Albtraum erwachen.
Herzlichst
Mentorin auf Zeit
1. Sand
Kommentar vom 24. Januar 2012 um 19:21
Für ein Kind ist nicht geliebt zu werden eine sehr große Bedrohung. Braucht es doch die Fürsorge und Liebe der Eltern, das Geborgensein. Also wird es aufessen. Und die erste Erpressung ist durchgelaufen, weitere werden folgen. Das Kind verinnerlicht damit: ich bin für die Gefühle meiner Eltern zuständig, ich darf nicht Nein sagen, ich muss tun, was man mir sagt. Schon ist die emotionale Grenzüberschreitung da.
Und welche Erfahrungen gibt der spätere Erwachsene dann weiter? Wahrscheinlich wird er genauso handeln, wie er/sie behandelt wurde.
Wahrscheinlich.
Es gibt auch Ausnahmen!!!!
2. Evelyn
Kommentar vom 26. Januar 2012 um 18:57
Gott sei Dank gibt es Ausnahmen!
Und jeder von uns darf sich entwickeln – auch aus den antrainierten Mustern heraus. Das ist möglich … und dazu leiste ich mit der Aufklärung auf diesem Blog einen kleinen Beitrag zum „Wahrnehmungswechsel“.
3. Brigitte Michaela
Kommentar vom 26. August 2012 um 09:02
Lasst uns neue Sprachgewohnheiten kreieren und einführen!
Ich habe zu meiner Tochter immer gesagt (wenn sie nicht mehr weiter essen wollte):
Juchuu! Wir haben unser Kind satt gekriegt!
4. Evelyn
Kommentar vom 26. August 2012 um 12:05
Ciao, Brigitte,
wie war die Reaktion Deiner Tochter auf diese Worte? Interessiert mich sehr.
Herzlichst Evelyn
5. Bernhard
Kommentar vom 11. November 2014 um 19:26
Es ist zutiefst erschütternd und erzürnt mich
sehr immer wieder feststellen zu müssen, dass unter „Missbrauch“ nahezu ausschließlich sexuelle Fehlhandlungen verstanden werden; als ob nur der Körper des Kindes litte, wenn es misshandelt wird!
Ich selbst bin als kleiner Junge immer wieder „missbraucht“ worden – jawohl, auch sexuell. Aber dies eine kann ich
Ihnen sagen: Nicht die sexuellen Vergreifungen
haben mir geschadet, nicht im geringsten; wirklich gelitten hatte ich unter den seelischen Martyrien, manch deren Folgen mich heute noch bedrängen. Gezielter Liebesentzug, Bloßstellungen, Verspottung und verbale zutiefst entwürdigende „Hinrichtungen“
waren das Schlimmste für mich. Da genoss ich sogar die eine oder andere sexuelle Heimsuchung als eine Art „Vergebungsakt“ oder zurückgewonnenen Liebeserweis.
Damit ich hier nicht missverstanden werde: Ich möchte den sexuellen Missbrauch in keinster Weise verharmlosen und verurteile ihn mit der gleichen Abscheu wie jede andere Art des Kindesmissbrauchs bzw. der Kindesmisshandlung. Nur: Beweist das unterschiedliche Verhalten der Allgemeinheit
gegenüber körperlicher/sexueller und seelisch-geistiger Gewalt nicht deren überhandnehmende Herz-Losigkeit, weil sie keine Empathie, kein wirkliches Mit-Gefühl und Mit-Leid mehr empfindet? –
6. Evelyn
Kommentar vom 12. November 2014 um 11:41
Ciao Bernard,
danke dafür, daß Du Dir die Zeit genommen hast, auf diesen Beitrag zu antworten. Mir ist bewusst, daß die seelischen Verletzungen wesentlich sind und für lebenslange Auswirkungen sorgen (können!). Genau das ist ja mein Anliegen auf diesem Blog. Und wenn Du in den einzelnen Rubriken lesen magst, so findest Du viele Ansätze und Anregungen, diese Auswirkungen für Dich aufzulösen. Wie schon in meinem Artikel oben geschrieben: Der Missbrauch fängt ganz „klein“ an und hat dennoch erhebliche Auswirkungen.
Segen auf Deinem weiteren Lebensweg.
Evelyn